Felix Brunner

Il Patriarca

Il Patriarca
2024
Acryl > Canvas
125 x 96 cm

https://www.tagesanzeiger.ch/sardinien-und-sein-olivenbaum-der-patriarch-ist-auferstanden-867318582926

Der Patriarch ist auferstanden!
Zuerst brannte er ab, dann wurde er zum Symbol für Widerstandskraft und Solidarität: Wie ein 2000 Jahre alter Olivenbaum die Menschen auf Sardinien bewegt.

Il Patriarca, der Patriarch – so wird dieser Olivenbaum genannt, der den Menschen auf Sardinien seit Urzeiten ein Vorbild ist.
«Schau her, unser Monument», sagt Agostino Casule mit bitterem Lächeln. Von dem Olivenbaum ragen nur noch verkohlte Stümpfe in die Luft. Dabei stand hier bis vor kurzem einer der bekanntesten und ältesten Bäume Sardiniens.
Agostino Casule ist ein pensionierter Förster und kommt hierher, wenn er mit seiner Frau spazieren will. Um den berühmten Baum herum wurden Wege ausgebaut, die Sicht aufs nahe Meer ist erhaben, und im Rücken thront Cuglieri, ein hübsches Hügeldorf im Westen Sardiniens, zwei Stunden mit dem Auto von der Hauptstadt Cagliari entfernt. Mit ernster Miene fügt Casule an: «Unsere Vorfahren haben dafür gesorgt, dass hier alles erblühte. Und wir sind die, die es zerstören.»
Il Patriarca – der Patriarch – wird der Baum ehrfürchtig genannt, weil er den Menschen als Vorbild für Standfestigkeit dient und seit Urzeiten Schatten spendet. Il Patriarca – in Italien ist dieses Wort noch nicht negativ besetzt. Der Patriarch ist wohl über zweitausend Jahre alt, genau lässt sich das nicht sagen.
Im hohen Alter trocknete sein Innerstes aus und hinterliess einen Hohlraum, wie es vielen uralten Bäumen geschieht. Der Anfang ist also für immer ausgelöscht und mit den üblichen Messgeräten nicht zu bestimmen. Weil sich aber in der Nähe Ruinen aus der Zeit der römischen Besetzung befinden, wird angenommen, dass der Baum damals gepflanzt worden ist.

Brief an einen Baum: Ein neunjähriges Mädchen beklagt das Schicksal des Patriarchen und wünscht sich, dass die Menschen der Natur mehr Sorgen tragen.
Was dieser Baum nicht schon alles erlebt haben muss! Den misslungenen Aufstand der Sarden gegen die Römer im Jahr 215 vor Christus. Die Überfälle der Sarazenen, die byzantinische Herrschaft, später die Pisaner, Staufer und schliesslich die Spanier, die die Ortschaft Cuglieri im 16. Jahrhundert zum Schauplatz der führenden Olivenölproduktion Sardiniens machten. All das nahm der Patriarch stoisch hin, wie es seiner Natur gemäss ist.
Sardinien ist die Region Italiens, in der es am meisten Wald gibt; über fünfzig Prozent beträgt der Anteil. Auch was die Anzahl monumentaler Bäume betrifft, steht die Insel an erster Stelle: Rund achthundert Exemplare sind im nationalen Register geschützter Bäume verzeichnet. In einer Verordnung ist festgehalten, welche Werte eine Baumsorte erfüllen muss, um in dem Register aufgenommen zu werden. Wesentlich sind das Alter und der Umfang des Stammes. Es gibt aber auch andere Gründe, etwa die kulturelle Bedeutung.
Ein Baum als nationales Monument
Il Patriarca ist nur einer auf dieser Liste. Es gibt ein paar Bäume, deren Ursprünge vermutlich noch weiter zurückreichen, etwa der Olivenbaum von Luras im nördlichen Teil Sardiniens. Doch keiner hat seine Wurzeln so tief in den Herzen der Menschen verankert wie der Patriarch. Vier Menschen hätten nicht genügt, um ihn zu umarmen: Zehn Meter betrug der Umfang des Stammes, die Krone war sechzehn Meter hoch, sein enormes Geäst bot Schutz für eine Hundertschaft.
Nachdem er 1987 offiziell zum nationalen Monument erklärt worden war und weil ein Schild an der nahen Strasse für ihn warb, wurde der Baum zu einem beliebten Ziel von Pilgern aus aller Welt. Sie setzten sich auf den grossen Stein, der zu seinen Füssen liegt, versunken in Gedanken. Sie machten Fotos von sich und ihm, dem alten, stillen Weisen, der so tief verwurzelt ist. Wer seine Sprache kannte, erhielt Antworten. Oder auch nur ein Gefühl davon, wie es ist, der Ewigkeit nahe zu sein.
Doch dann kam der Sommer 2021. Der Scirocco blies heftig und brachte glühende Luft aus Afrika nach Sardinien. Seit Tagen war es in jenem Sommer heiss und trocken, mit Temperaturen von über vierzig Grad.
Auf einer Strasse auf der Südseite des Montiferru, des grössten Vulkanmassivs der Insel, blieb am 24. Juli ein Auto stehen. Vom Motor stieg Rauch auf, dann fing der Wagen Feuer. Der Brand wurde gelöscht, das Auto abgeschleppt. Doch der Feuerwehr entging, dass sich Glut von jenem Brand in den Boden verzogen hatte. Im Lauf des Nachmittags brachte sie der starke Wind zurück an die Oberfläche, entfachte das Feuer von neuem und trieb es in Richtung Cuglieri, das auf der anderen, der nördlichen Seite des Montiferru liegt.
Es verging einige Zeit, bis jemand den Brand meldete. Und dann unterschätzten die Leute im Kontrollzentrum der regionalen Feuerwehr die Situation. Dabei hatte es 1983 und 1992 an derselben Stelle bereits verheerende Waldbrände gegeben, die sich bis vor die Tore Cuglieris gefressen hatten. Und nun wieder.
Als die Feuerwehr endlich eintraf, war das Feuer bereits unkontrollierbar. Der Wind zu stark, zu wuchtig das Feuer; vor sich eine unverbaute Landschaft, die in der Hitze des Hochsommers zu kilometerlangem Zunder geworden war. Weil es bereits dunkelte, konnten die Helikopter und Flugzeuge mit ihren Wasserbomben nur kurz eingreifen.

Das verheerende Feuer frisst sich Richtung Dorf
Gegen 18 Uhr war der Brand an den Kämmen des Montiferru angelangt. Von dort sind es immer noch etliche Kilometer bis Cuglieri. Aber da der Wind sich im Sinken stark beschleunigte, erreichte er ein horrendes Tempo.
Drei Stunden später stand das Feuer vor den Toren des Städtchens und überraschte die Bewohnerinnen und Bewohner. Alte und Kinder wurden eiligst evakuiert; die Bauern und Hirten, die um das Städtchen herum das Land bewirtschaften, versuchten, ihre Tiere in Sicherheit zu bringen.
Anders als in den vergangenen Fällen machte das Feuer diesmal nicht halt vor dem Dorf. Der Wind peitschte Funken und Feuerbälle über die Siedlung hinweg, hölzerne Türen und Fenster fingen Feuer, Schuppen brannten, Gärten wurden zu Asche. Das Feuer wanderte weiter, verschlang die hinter Cuglieri liegenden Olivenplantagen und fand an der Küste endlich seinen Meister.
Viele wilde Tiere, aber auch Schafe, Kühe und Hunde konnten nicht rechtzeitig fliehen, starben in den Flammen. Achtzig Prozent aller Olivenbäume wurden zerstört und damit die Lebensgrundlage der Olivenölproduzenten – zehn bis fünfzehn Jahre dauert es, bis ein neu gepflanztes Bäumchen wieder ein bisschen Ertrag abwirft.
Einzig die Leben der Menschen blieben verschont. Eigentlich ein Wunder, aber kaum jemand nahm das zur Kenntnis. Das Trauma, das die Wucht der Zerstörung auslöste, war zu tief.
In den verzweifelten Versuchen, das eigene Hab und Gut zu retten, ging der Patriarch in der Brandnacht vergessen. Erst nachdem der Landwirt eines nahen Grundstücks im Lauf des nächsten Morgens Alarm schlug, rückte die Feuerwehr aus. Im Innern des Patriarca brannte es noch immer. Die Flammen loderten im verbliebenen Stumpf, dessen Hohlraum zum Kamin geworden war. Die Glut war dabei, sich hinunter ins Wurzelwerk zu fressen und damit den Lebenskeim des Baumes gänzlich zu zerstören.
Giovanni Galistu war einer der Ersten, die sich um den Patriarchen kümmerten, nachdem die Feuerwehr abgezogen war: Er und andere Nothelfer gossen im Turnus Wasser über den Brandherd. Der Boden war auch Tage danach noch glühend heiss.
Giovanni Galistu, sechzig Jahre alt und Inspektor für den zertifizierten sardischen Schafskäse, erinnert sich: «Es gab zwei Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen – Wunden lecken oder etwas tun.»

«Wunden lecken oder etwas tun»: Giovanni Galistu, Inspektor für sardischen Schafkäse, gründete einen Verein, um den alten Olivenbaum wieder aufzupäppeln. Aus der kleinen Initiative wurde eine Bewegung für eine ganze Spezies.
In den Augen vieler machte Letzteres aber keinen Sinn. Es gäbe Sinnvolleres, als kostbares Wasser für einen verkohlten Olivenbaum zu vergeuden, bekam er zu hören. Zudem: Olivenbäume sind Überlebenskünstler. Sie können von Krankheiten befallen werden, bei Feuer brennen sie wie Zunder, und auf Frost reagieren sie höchst empfindlich. Doch dass sie sterben, ist eher selten.
Galistu und seine Leute konnten den Baum nicht einfach sich selbst überlassen, schliesslich ist er nicht irgendein Olivenbaum: «Er ist einer von uns!» Zusammen mit Gleichgesinnten gründete er den Verein Montiferru – einen Verein für einen Baum.
Zu den Aktivisten gehörte auch Gianluigi Bacchetta, Professor für Botanik an der Universität Cagliari, spezialisiert auf Biodiversität. In der Saatgutbank im Botanischen Garten von Cagliari, für die er verantwortlich ist, lagern auch die Samen des Patriarchen. In grösster Sorge um seinen uralten Schützling fuhr Bacchetta noch am Nachmittag des 25. Juli nach Cuglieri.

Hier lagern die «Nachkommen» des Patriarchen: Samen des versehrten Baums in der Saatgutbank des Botanischen Gartens von Cagliari.
Der Professor trat umgehend dem Verein bei und erarbeitete einen Plan mit lebensrettenden Massnahmen: Eine Bewässerungsanlage wurde installiert, um den Boden abzukühlen, Jutetücher wurden ausgelegt und Zeltplanen aufgestellt, um die verbrannte Erde und die noch intakten Partien des Baumes vor der Sonne zu schützen.
Als sich der Patient etwas stabilisiert hatte, erhielt er eine Kur mit diversen Nährstoffen. «Allein aus wissenschaftlicher Sicht war es enorm wichtig, dass der Baum überlebte», sagt Bacchetta. Sein Erbgut sei von unschätzbarem Wert für die Forschung, und durch den Wuchs neuer Triebe liessen sich Vergleiche mit zeitgenössischen Pflanzen anstellen.
Es vergingen Tage, Wochen und Monate. Die Kur wurde fortgesetzt, doch der Patriarch gab kein Lebenszeichen von sich. Auch nicht im Frühling, als sich andernorts, wo das Feuer durchgezogen war, bereits wieder junge Triebe zeigten. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass im Baum noch Leben war.
Der Patriarch wird zur Pilgerstätte
Täglich gingen Leute zur Brandstelle, um sich vom Patriarchen zu verabschieden. Der trostlose Anblick liess niemanden kalt. Unverständnis, Trauer und vor allem viel Wut kamen hoch – genährt von der allgemeinen Entrüstung über «die Menschheit», die den ganzen Planeten an den Abgrund gebracht hat. Es spielte dabei keine Rolle, dass das Feuer ohne Absicht entstanden war.
Die Besuchenden kritzelten ihre Enttäuschung auf Zettelchen, Taschentücher, Post-its oder später auch ins Gästebuch, das Graziella Galistu, Giovannis Frau, hinterlassen hatte. Das Buch und die losen Zettelchen fanden Schutz in einer Metallschachtel, die die Hausärztin aus ihrer Praxis mitgebracht hatte. Die Schachtel hatte zur Aufbewahrung von Patientendossiers gedient.

In einer Box hinterlassen Besucherinnen und Besucher Botschaften für den Baum, die neben dem verkohlten Stamm aufbewahrt werden.
Einige der zahllosen Widmungen:
«Mutter Erde, bitte vergib, was die Hand des Menschen dir angetan hat.»
«Wut und Trauer – das ist das, was ich zu diesem Bild der Verwüstung sagen kann. Aber auch Hoffnung, weil die Natur stärker ist; stärker jedenfalls als der dumme Mensch!»
«Was für eine schlimme Überraschung! Ich bin dir vor dem Brand begegnet – und nun? Ein Desaster, vom Menschen verursacht!»
«Das hier müsste eigentlich ein Tempel sein, und, wer weiss, vielleicht ist es das auch.»
Am 15. April 2022, knapp neun Monate nach dem Brand, begab sich Professor Bacchetta erneut nach Cuglieri.
Er war eingeladen worden, um der traditionellen Osterprozession beizuwohnen. Zuvor wollte er noch beim Patriarchen vorbeischauen. Als er sich dann vor dem verkohlten Stumpf niederkniete und mit den Händen durchs Gras fuhr, glühte sein Herz vor Glück: Da waren doch tatsächlich zarte Triebe eines Olivenbaumes zu erkennen. Ein kleines Büschel mit filigranen, wenige Millimeter langen Sprossen zeigte sich am Fusse des alten Stammes.
Der Patriarch war auferstanden. An Ostern!

Ausgerechnet an Ostern zeigten sich die ersten Triebe: Der Baum war auferstanden.
Das war ein starkes Zeichen, ein Triumph des Lebens, das vielleicht eine andere Richtung einnehmen mag, sich ein anderes Gefäss aussucht, aber niemals versiegt. Der alte Baum lehrte, wie man den grössten Widerwärtigkeiten trotzt. Er machte vor, dass man jederzeit neu anfangen kann. Seiner alten, majestätischen Form entledigt, war der Patriarch zu einem Symbol geworden.
Giovanni Galistu und seinen Weggefährten verlieh dies viel Schwung. Zusammen mit Freiwilligen seines Vereins hat er seither zehntausend Jungbäume gepflanzt. Er organisiert Informationsabende und Kurse, um möglichst viel Wissen über die Olivenbäume unter die Leute zu bringen.
Auch die Schule machte den Baum zum Thema. Professor Bacchetta und andere Fachleute hielten Vorträge, die Kinder zeichneten, schrieben Geschichten. Daraus entstand dann ein dickes Bilderbuch.
«Es war der Beginn von etwas Neuem, nicht das Ende», sagt Galistu.

Giovanni Galistu blickt auf Cuglieri. Schon 1983 und 1992 hatte es hier verheerende Waldbrände gegeben, die sich bis vor die Tore des Städtchens gefressen hatten.
Andere konnten wenig mit der Idee einer Auferstehung anfangen. Andrea Loche zum Beispiel, der Bürgermeister von Cuglieri, hielt die Euphorie um die paar jungen Triebe für übertrieben. Niemals käme es ihm heute in den Sinn, zur Brandstelle zu gehen. «Der Patriarch ist gestorben», sagt er. «Das, was er einmal war, das existiert nicht mehr.»
Wäre es nach dem Bürgermeister gegangen, hätte man mit einer Motorsäge alle Überreste des Baumes beseitigen sollen. Sehr viele sind es aber nicht, die so denken wie er.
Bald ist es drei Jahre her, seit Cuglieri vom grossen Feuer heimgesucht wurde. Um die verkohlten Stümpfe des Patriarchen ist wieder Gras gewachsen. Man muss genau hinschauen, um seine Zukunft zu erkennen. Sie hat drei Formen angenommen: Da sind seine eigenen Triebe, einem intakt gebliebenen Teil des riesigen Wurzelwerks entsprungen.
Wenn die Triebe einmal genug herangewachsen sind, damit man den Stärksten unter ihnen ausmachen kann, werden alle anderen abgeschnitten. Dann braucht es Zeit und Geduld, bis sich die Pflanze wieder als Baum präsentiert.

Vor dem Brand war die Krone des Patriarchen sechzehn Meter hoch – nun gibt es Hoffnung, dass er irgendwann wieder seine Äste in den Himmel streckt.
Ein paar Meter von diesen Trieben entfernt, wächst ein einzelner Trieb heran, der von einer Olive stammt, die zu Boden gefallen war und deren Kern auf fast noch wundersamere Weise vom Feuer verschont blieb. Einen weiteren Nachwuchs hat der Verein im letzten Herbst gepflanzt, in sicherer Distanz. Er stammt von Samen des Patriarchen, die in Bacchettas Saatgutbibliothek tiefgekühlt eingelagert worden waren.
Nach wie vor kommen Menschen und halten fest, was ihnen auf dem Herzen liegt. Wut und Empörung sind inzwischen verraucht, jetzt dominiert die Erleichterung, wie es auf einem Post-it steht, den jemand in die Metallbox gelegt hat: «Kriege, Epidemien und viele Desaster hast du überlebt. Und auch dieses Mal hast du es wieder geschafft.»